Die Rechtswissenschaften seien „Normwissenschaften“, sagen
Juristen gern. Aber es gibt natürlich auch außerrechtliche
Normen. Man kann an Moral denken aber auch an Regeln, die
gemeinhin nicht moralisch verstanden werden: Etwa die, bei
Rot an der Am- pel zu warten. Die Soziologie hat für solche
und verwandte Phänomene den Begriff der „sozialen Normen“
hervorgebracht und ihn über die Jahre in die Psychologie,
die Philosophie, die Politikwissenschaft und die
Volkswirtschaftslehre „exportiert“. Auf dieser Reise durch
die Disziplinen ist der Begriff ein schillernder geworden,
der in vielen Facetten behandelt und angewandt wird. Die
Wirt- schaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom – von Hause
aus vielleicht eher Politologin – hat untersucht, wie
soziale Normen helfen, geteilte Ressourcen zu erhalten und
zum allseitigen Vorteil zu nutzen. Christina Bicchierin,
eine Philosophin hält soziale Normen für die Grammatik der
Gesellschaft. Erik Posner hat als Rechtswissenschaftler
beschrieben, wie das Recht und soziale Normen sich
gegenseitig beeinflussen und bedingen. George Akerlof und
Rachel Krantin halten soziale Normen für ein wesentliches
Element, dessen Fehlen in Standardmodellen der Ökonomie
erklärt, warum diese Modelle in bestimmten Situationen
falsche Vorhersagen machen. Obwohl sich die Begriffe
sozialer Normen, die die genannten Wissenschaftler nutzen,
unterscheiden, ist ihnen gemein, dass sie – anders als die
frühere soziologische Literatur – spieltheoretische
Instrumente verwenden und die Erwartungen an das Verhalten
und das Urteil Anderer ins Zentrum der Analyse der
Motivation von Agenten stellen.
Das Seminar soll das Verhältnis von sozialen Normen und
Recht erhellen. Dazu soll sozialwissenschaftliche Forschung
zu sozialen Normen mit rechtswissenschaftlichen
Forschungsfragen in Beziehung gesetzt werden, um vielleicht
neue Antworten auf alte Fragen zu finden. Das Seminar
konzentriert sich auf die Literatur zu sozialen Normen aus
der Ökonomie, der Philosophie, der Psychologie und
vereinzelt auch der Politologie. Es behandelt die
soziologische, weniger quantitativ ausgerichtete Forschung
zum Thema dagegen allenfalls am Rande. Vorkenntnisse in
quantitativen sozialwissenschaftlichen Methoden,
insbesondere der Spieltheorie, sind hilfreich, werden aber
nicht vorausgesetzt. Das Seminar ist auch ohne diese
Vorkenntnisse gut zu bewältigen.